Ein anständiger Mensch zahlt anstandslos

 

Dieser Satz, auf den ersten Blick platt und selbstverständlich, erscheint auf den zweiten Blick widersinnig. Denn, wenn ein anständiger Mensch zahlt, so tut er es doch mit Anstand, sollte man meinen, aber nein, er tut es ohne Anstand, anstandslos. Kann man diesen Widerspruch erklären? Dann ist da auch das Wort „Umstände“. „Mach doch keine Umstände!“ sagt man, aber auch „Wir hatten Erfolg, die Umstände waren günstig“.

 

Es fällt auf, dass in beiden Wörtern eigenartiger Weise das Wort ‚stehen’ steckt. Man muss schon schwer nachvollziehbare Klimmzüge machen, um die uns geläufigen Bedeutungen dieser Wörter mit dem Begriff des Stehens in Verbindung zu bringen. Dass es sich hierbei um sehr alte germanische Wörter handelt, sieht man schon daran, dass sie in den skandinavischen Sprachen eine sehr ähnliche Form haben: Anstand – Anstendighet, Umstand – Omstendighet (norwegisch); im Schwedischen und Dänischen sind die Worte ähnlich. Außerdem ist die Vorsilbe  von „Anstand“ nicht „an“, wie es zunächst scheint sondern „ant“ wie in Antwort (Entgegnung). Das t ist vor dem st schwer zu sprechen und daher, wie es heißt, aus euphonischen Gründen weggefallen  Die Vorsilbe „ant“ ist indogermanisch verwandt mit griechisch „anti“ (gegen, entgegen), wie z.B. in Anti-biotikum. Nun lassen wir die Katze aus dem Sack. Beide Begriffe erklären sich zwanglos aus dem Germanischen Rechtswesen, dem Thing. Dort standen die Teilnehmer im Kreise. Die Anstände waren die Widersacher, die einander  gegenüber standen. Die Umstände, d.h. die Umstehenden, bekundeten durch Beifall oder Murren ihre Zustimmung oder Ablehnung eines Vorschlages, eines Anspruchs, einer Anklage oder einer Verteidigung.  Sie mochten auch für einen Anstand eintreten – ihn ver-stehen. Für einen Anstand konnten also die Umstände günstig oder ungünstig sein. Um überhaupt eine Chance zu haben, von den Umständen und den Richtern respektiert zu werden, musste sich jeder Anstand verhalten, wie es sich für einen Anstand gebührt, eben „anständig“.

 

Zweifelte man einen Rechtsanspruch nicht an, dann verzichtete man auf die Entscheidung im Thing und auf die Zustimmung von Umständen, man „machte keine Umstände“, man wird demnach auch nicht zum gerichtlichen Widersacher, zum Anstand, sondern befriedigte den Anspruch „anstandslos“.

 

Es ist auffällig, in wie vielen Worten aus dem Rechtswesen das Wort „Stehen“ steckt; alle haben den gleichen germanischen Ursprung: gestehen,  bestehen, bestehen auf, Beistand, Gegenstand, vor allem gegenstandslos und auch verstehen, wie in der Redewendung „seine Sache verstehen“.  Sache war ursprünglich ausschließlich die Gerichtssache wie z.B. „in Sachen A gegen B“.  Sache, Ding  (Thing) und Gegenstand haben im Laufe der Zeit eine Bedeutungserweiterung erfahren und sind nun auch synonym mit „Objekt“.  Interessanterweise heißt „Sache“ auf norwegisch „Ting“ und auf  schwedisch Thing, auf deutsch auch Ding.

 

Für die hier vorgetragene Hypothese gibt kaum schriftliche Quellen; die einzigen Quellen sind alte, eingefleischte Redewendungen und unser Sprachgefühl.  Die Stärke dieser Erklärung liegt in ihrer Plausibilität.

 

Danksagung:

 

Ich verdanke diese Analyse meinem Vater, Dr. Roland Martin, der im Jahre 1938 in der „Zeitschrift für Deutschkunde“ einen Artikel mit dem Titel „Können wir das Wort Verstehen verstehen?“ veröffentlicht hat. Sein Ergebnis wurde dann vom „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ (Friedrich Kluge) übernommen, s. z.B. 18. Auflage, Berlin 1960, s. 81