D i e   M e i s e n 

 

Die Meisen kamen mit Gesinge

und suchten runde Meisenringe.

  

Ganz klar ist, wenn sie keine fänden,

sie würden jämmerlich verenden.

 

Da hängt ja einer, an der Leine!

Sie fraßen ihn, als sei‘n sie Schweine.

 

Satt und mit lauterem Gesinge,

verließen sie die Meisenringe. 

 

 

Rezension 

 

Es handelt sich hier um ein Gelegenheitsgedicht, zu dem die Kartonaufschrift „Meisenringe“ den Anstoß gab, wie der Verfasser ja bestätigt.

 

Das Versmaß ist weitgehend ein vierfüßiger Jambus mit unbetonter Endsilbe, eine nicht unübliche Form.

Beispiele:  

 

Goethe:

Es schlúg mein Hérz, geschwínd zu Pférde!

 

Roth:

Denn wo’s g’rad’ weh tut, tut’s am wehsten.

 

Über die Abweichung davon in der vierten Strophe wird noch gesprochen.

Bei erster (oberflächlicher) Betrachtung scheint es dem Verfasser vor allem um das Reimen gegangen zu sein: „Gesinge – Meisenringe“, denn inhaltlich kann man selbst mit geringen naturkundlichen Kenntnissen an dieser ersten Zeile leicht Kritik üben -- wie es scheint. Na ja, es stimmt, offiziell sind Meisen Singvögel. Ihr Lied wird im Deutschen als „Zizidäh“ beschrieben, und das englische Wort für Meise, „chikadee“, deutet ebenfalls diese Form des Gesanges an. Nur, im Flug singen sie nie, daher die Kritik.

 

Doch das Bild, das der Verfasser hier zeichnet, ist ein Anderes: Der Betrachter der Futterstelle sieht links auf der Balkonbalustrade drei Meisen, weiter rechts an einer Leine aufgehängt den Meisenring. Die Meisen hüpfen nach rechts, Meisenringe suchend und immer wieder singend (wahrscheinlich um ihr neu besetztes Territorium zu sichern), bis sie schließlich fündig werden. Anstatt „runder“ hätten sie vielleicht besser „fette“ Meisenringe suchen sollen; hier wollte der Verfasser mit einem Augenzwinkern wohl andeuten, dass man das Gedicht nicht zu ernst nehmen solle.

 

Die zweite Strophe spricht für sich selbst: sie hebt die für das Überleben der Meisen so wichtige winterliche Zufütterung hervor.

 

Die dritte Strophe beschreibt die Vehemenz des Fressens, die in verschwenderischer Weise auf Manieren keine Rücksicht nimmt.

 

In der vierten Strophe zeigt sich der Erfolg der Aktion. Des Nachdrucks wegen weicht der Verfasser hier von dem vorherigen Versmaß ab: An Stelle der vier Jamben beginnt die erste Zeile mit einem Daktylus dem drei Trochäen folgen. Zum Inhalt (a) die nun satten Meisen haben mehr Energie und singen daher lauter. (b) Doch warum singen sie jetzt überhaupt? Nun, der Verfasser, der ja eine Beobachtung beschreibt, kann nur spekulieren: Da diese Stelle jetzt nicht nur eine potenzielle (wie beim ersten Gesang) sondern eine tatsächliche Futterstelle darstellt, wird wiederum zur Sicherung des nun äußerst wertvollen Territoriums heftig gesungen.

 

Der Verfasser, frustriert mit seinem neuen Bemühen, glaubt zur Zeit, dass 

 

Rhythmus, auch Reim und Semantik, sie geben Gedichten die Wirkung. 

Ohne dergleichen zu wirken, das schafft nur die Kraft des Titans.