Gehen wir zum anderen Ende der Fortpflanzung, der Eizelle und den Spermien. Beide sind unbeseelt. Da die allermeisten dieser Zellen umkommen, ohne neues Leben zu schaffen, wäre dies sonst eine unglaubliche Verschwendung an Seelen, die man Gottes Ratschluss nicht zutrauen möchte. Die Eizelle ist außerdem unbeweglich und kann damit als leblos betrachtet werden. Anders ist es mit den Spermien, die unter dem Mikroskop sehr lebendig aussehen und damit eigentlich beseelt sein müssten (fanatische Machos könnten diesen Unterschied zwischen Ei- und Samenzelle möglicherweise politisch umzumünzen versuchen). Wir wollen sie hier jedoch als chemisch betriebene Automata betrachten, die damit keiner Seele bedürfen. Die Bezeichnung „Spermatozoon“, zu deutsch „Samentierchen“, ist demnach ein Misnomer.
Was ist also der richtige Moment der Seelenübernahme? Klar, der Moment der Befruchtung, also der Vereinigung von Ovum und Sperma! Doch wie geht es weiter? Hier passiert im Kleinen genau das, was der Katechismus im Großen beschreibt, wie wir sehen werden.
Bekanntlich wird der Organismus durch fortwährende Zellteilungen aufgebaut. Wenn sich nun die befruchtete (und beseelte) Zelle erstmalig in zwei teilt, gibt es drei Möglichkeiten:
1. Die Seele bleibt nur in einer der beiden neuen Zellen. Das ist sehr unwahrscheinlich, denn wenn die Seele bei jeder Teilung sich auf nur eine Zelle festlegt, dann gibt es schließlich in dem etwa 100 Billionen zellstarken Organismus nur eine Zelle mit Seele. Das erlaubt das Dogma kaum.
2. Die Seele nimmt an der Teilung teil, d.h. sie teilt sich auch, und jede der beiden Tochterzellen hat ihre eigene Seele. Auch das ist unwahrscheinlich und nicht konform mit dem zu Glaubenden. Der Organismus hat eine Seele und nicht 100 Billionen.
3. Die Seele, unbeeindruckt von trennenden Zellwänden, besetzt beide Tochterzellen. Nun, das funktioniert. Mit fortschreitender Entwicklung des Embryos werden auf diese Weise alle Zellen von der Seele eingenommen. Weiterhin, wenn dann später die ein- oder andere Zelle abstirbt, zieht sich die Seele aus diesen Zellen zurück, verlässt aber nicht den ganzen Körper, da ja noch reichlich lebende Zellen vorhanden sind. Zuweilen rätseln Denker oder Gläubige darüber nach, in welchem Organ die Seele ihren Sitz habe. Über die Antwort wollen wir nicht spekulieren, halten aber eine spezielle Wahl für möglich, denn, wenn sich während des Wachstums des Embryos/Fötus Zellen mehr und mehr spezialisieren, kann die Seele ihre eigene Ausbreitung insofern steuern, als sie sich nur in die Zellen begibt, die schließlich das Zielorgan bilden.
Dies sanktioniert möglicherweise die für die Organentnahme wichtige Entscheidung, nach dem sog. Gehirntod den Körper ausschlachten zu dürfen, dann nämlich, wenn man annimmt, dass das Gehirn der wahre Sitz der Seele ist. Ist nämlich das Gehirn tot, so ist die Seele bereits zu Gott entwichen und der Rest ist ein entseelter Körper, der dann ohne ethische Bedenken zu welchem Zweck auch immer benutzt werden kann.
Was unerklärt und der Fantasie des Gläubigen überlassen bleibt, ist die Natur der Seele, d.h. was man sich unter ihr und ihren Fähigkeiten vorzustellen hat, nachdem sie den (toten) Körper verlassen hat oder auch, bevor sie in einer befruchteten Zelle heimisch wird. Um indirekt etwas über diese Natur zu erfahren, kann man den von der Kirche aufgezeichneten Weg betrachten, den die Seele nach dem Tode ihres Körpers möglicher Weise nehmen kann: sie geht nämlich entweder gleich zu Gott, oder, wenn sie dazu nicht rein genug ist, ins Purgatorium, zu Deutsch: ins Fegefeuer, um dort durch eine recht milde Strafe geläutert zu werden, oder, wenn sie total verderbt ist, in die Hölle. Hieraus kann man mindestens schließen, dass die Seele, nach Ansicht der Kirche, ein Gedächtnis hat, sich also an Erlebnisse und Taten ihrer Körperverbundenheit erinnert, mit dem lebenden Menschen durch dessen Taten schuldig geworden ist, und dann Strafe erleiden kann. Die Seele hat also Bewusstsein und Formen von Wahrnehmung (z.B. der Strafe). Alle diese Eigenschaften kann sie bei ihrer Besetzung der ersten Zelle jedoch noch nicht haben, denn, dass diese erste Zelle bereits ein Bewusstsein hat, ist schwer vorstellbar, ganz zu schweigen von Gedächtnis und Wahrnehmung.
Dann stellt sich für den Wissenschaftler noch die ketzerische Frage nach der Funktion der Seele im lebenden Körper. Ist doch klar, mag der Gläubige betonen, die Seele ist die Psyche, schließlich kommt das Wort aus dem Griechischen (ψυχή = Seele), also der Sitz der Gefühle wie Furcht, Hoffnung, Wünsche, Antrieb u.s.w.. Die Wissenschaft widerspricht und weist darauf hin, dass alle diese Gefühlsbewegungen im Gehirn mit chemo-elektrischen Vorgängen einhergehen und deshalb darauf zurückzuführen seien, weil die Stimulierung dieser Gehirnbereiche besagte Gefühle ebenfalls auslösen.
Was bleibt dann noch für die Seele? Unsterblichkeit und die Rolle des Prügelknaben für die Untaten, die der Körper zu seinen Lebzeiten begangen hat.
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