Psyche und Ratio

Außer des religiös-philosophischen Konzepts der unsterblichen Seele hat das Wort „Seele“ bekanntlich auch andere Bedeutungen. „Die Seele des Vereins“ ist ein Mensch, der für alles sorgt und die Gruppe zusammen hält. Die Seele eines Kabels ist der eigentliche Leiter innerhalb der Isolation. Uns liegt hier an dem Begriff, der mit dem Wort Psyche mehr oder weniger synonymen ist. Wir wollen ihn als den Bereich der Gefühle und Vorstellungen unter Ausschluss des Verstandes, der Ratio, verstehen.

 

Ratio and Seele/Psyche haben gemeinsam, dass sie Sinneseindrücke und Gedächtnisinhalte nach Wichtigkeit auswerten. Sie sind vergleichbar mit Computerprogrammen, die sich auf Daten anwenden, die aus Datenbasen und Sensoren gegriffen werden. Ratio und Psyche unterscheiden sich aber wesentlich in dem, was sie bei ihrer Auswertung für wichtig halten.

 

Für die Ratio ist Wichtigkeit Stimmigkeit. Es zeigt sich, dass die Ausbildung der Ratio bei Kindern erst im Alter von etwa zehn Jahren und später -- und dann häufig auch nur bis zu einem gewissen Grade -- möglich und wirksam ist. Diese Ausbildung besteht im Vermitteln von Mathematik, insbesondere der Geometrie, lehrt Vorsicht beim Schließen, das Erkennen von Widersprüchen und die Wertschätzung der Logik.  (Die letztere ist genaue Verwendung der Sprache.2)) Für die Seele wird Wichtigkeit, sofern sie nicht angeboren ist, aus der Erfahrung abgeleitet. Entsprechend werden Aktionen oder auch Gedanken als gut oder verwerflich (böse), unbedenklich oder gefährlich oder wertneutral eingeordnet.

 

Die Erfahrung wird entweder direkt erworben (gebranntes Kind scheut das Feuer) oder vermittelt, also gelehrt durch Wort oder Beispiel. Die Seele kann in viel jüngerem Alter gebildet werden als die Ratio. Zunächst lernen Kinder soziales Verhalten und Konventionen; rationale Analysen sind hierfür unwesentlich, meist sogar unerwünscht. Das Kind muss z.B. lernen sein natürliches Eigeninteresse in gesellschaftlich akzeptabler Weise zu vertreten und die Rechte anderer zu respektieren. Früh gelernte Regeln werden vielfach verabsolutiert.

 

Ein Beispiel, es geht hier um Tischmanieren, möge dies veranschaulichen. Was für Deutschland der „Knigge, Über den Umgang mit Menschen“ ist für Amerika „The Ami Vanderbilt Complete Book of Etiquette“.  Dort erfährt man unter anderem, dass man beim Essen das Messer ausschließlich zum Schneiden verwendet. Danach wir es auf die Nord-Ost-Seite des Tellers gelegt, und die Gabel wechselt zum Essen in die rechte Hand, die linke Hand liegt dann auf dem Schoß. Das Buch weist darauf hin, dass all dieses „graceful“ d.h. anmutig, elegant zu geschehen habe. Kinder in USA müssen also lernen nur mit der Gabel und ohne weitere Hilfsmittel die Bissen in geeigneter Größe zum Munde zu führen. Deutsche Kinder dagegen müssen die linke, meist weniger geschickte Hand zum Bewegen der Gabel ausbilden. Beide Methoden funktionieren nach hinreichender Übung und jeder liebt seine Methode. In 1963 lernte ich auf einem Besuch in Kalifornien eine Einwanderin aus Deutschland kennen, die schon mehr als zehn Jahre in den USA lebte. Auf die Frage, wie sie sich denn eingelebt habe, bestätigte sie, dass sie sich schon fast als Amerikanerin fühle. Hat sie sich an die amerikanischen Tischsitten anpasst? Nein, sie wolle sich „doch nicht zu den Kaffern zurückentwickeln!“ Ähnliche Urteile findet man bei Besuchern der USA recht häufig. Es läuft auf die tief verwurzelte Überzeugung hinaus, die besagt: was ich gelernt habe ist richtig, alles andere ist minderwertig oder falsch.

 

Der Verstand und das Wissen der Seele

Auch wenn der Verstand dann später voll entwickelt und sogar geschult ist, wird er trotzdem selten auf Frühgelerntes angewendet, da dieses, wie gesagt, vielfach für absolut richtig gehalten wird. Während die sozialen Regeln einer Verstandesanalyse standhalten würden, d.h. sie erscheinen positiv sinnvoll, zeigten sich Regeln wie Tischsitten als akzeptabel, so wie sie sind, aber sicher nicht zwangsläufig richtig.

 

Anders ist es mit der Religion. Auch sie wird im Kindesalter vor der Entwicklung des Verstandes vermittelt und sie würde einer späteren Verstandesanalyse kaum standhalten. Sie wird jedoch von Anfang an so stark an Emotionen wie Furcht und Hoffnung angebunden und von den Eltern als absolut glaubwürdig vertreten, dass die Anwendung des Verstandes auf sie bereits als größte Sünde empfunden wird.  Trotzdem hat es immer wieder, vor allem seit der Aufklärung, sog. Freidenker gegeben, die Religionen hinterfragt und kritisiert haben.

 

2) Eine der aristotelischen Schlussfiguren läuft z.B. auf das richtige Verständnis des Wortes „alle“ hinaus. Wenn alle, dann jedes: Wenn alle Menschen sterblich sind, dann ist jeder Mensch sterblich also z.B. auch der Mensch Sokrates. Es gibt auch logisch korrekte Schlüsse, die in der aristotelischen Logik fehlen, z.B.: „Wenn A der Vater von B ist, dann ist B ein Kind von A“.  Aber überlassen wir das den Logikern.

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